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Die Goldenen Zwanziger des 20. Jahrhunderts sind bis heute legendär. Steht uns ein goldenes Revival nach Corona in den 2020ern bevor?

Nach Corona – stehen uns neue ‘Goldene Zwanziger’ bevor?

Seit einem Jahr lebt die gesamte Gesellschaft im Schatten der neuen Coronaviren. Das tägliche Leben, so wie wir es seit Jahrzehnten gewohnt waren, ist vorbei. Wann Lockerungen der landesweiten Lockdowns in Sicht sind, kann bisher nur vermutet werden. Trotzdem mehren sich Stimmen von Experten, die uns ein geradezu goldenes Jahrzehnt nach Ende der Pandemie prophezeien. Dafür gibt es gute Gründe und historische Parallelen.

Der Beginn der 1920er Jahre liegt nun ziemlich genau 100 Jahre zurück. Diese Dekade blieb in der westlichen Gesellschaft und Kultur bis heute unter den Namen Goldene Zwanziger, Roaring Twenties (Engl., ‘Stürmische Zwanziger’) oder Années folles (Franz., ‘Verrückte Jahre’) in guter Erinnerung. Denn in den zwanziger Jahren des vorherigen Jahrhunderts entfaltete sich eine wahre Blüte von Kunst, Musik und gesellschaftlicher Freizügigkeit im Scheine eines lange ersehnten Wirtschaftsaufschwungs. Schließlich war der Erste Weltkrieg erst kurz zuvor im Jahr 1918 vorüber gewesen und hinterließ neben vielen Millionen Toten wohl genauso zahlreich geschädigte Überlebende. Die Parallelen zur heutigen Zeit liegen allerdings in einem anderen Geschehen begründet. Das Jahr 1918 markierte nämlich nicht alleine das späte Ende des ersten mit industriellen Methoden geführten Vernichtungskrieges, sondern auch den Ausbruch einer schweren, weltweiten Influenza-Pandemie, die heute unter dem Namen Spanische Grippe bekannt ist, jedoch im kollektiven Gedächtnis verständlicherweise stark von den Folgen des Ersten Weltkriegs überlagert wird. Nach Schätzungen forderte die Spanische Grippe zwischen 1918 und 1920 unglaubliche 20 bis 100 Millionen Opfer, bei einer damals noch relativ geringen Weltbevölkerung von 1,8 Milliarden Menschen. Dies bedeutete ein Letalität von 5-10% unter allen Infizierten, ein Vielfaches der aktuellen Mortalitätsraten der neuen Coronaviren. Wer sich die Fotografien von Maskenträgern und provisorischen Krankenhäusern aus der damaligen Zeit zu Gemüte führt, der wird unweigerlich von einer erschreckenden Aktualität der Abbildungen überrascht werden. 

Heutzutage wieder ein gewohnter Anblick: Polizisten mit Mund-Nasen-Schutz
im Jahr 1918 zu Zeiten der Spanischen Grippe
Wie im Jahr 2020: ein provisorisches Krankenhaus für mit der
Spanischen Grippe infizierte Menschen in den USA im Jahr 1918

Nach der Pandemie ist vor der Party

Aber all dies war schnell fast wie vergessen, denn Marlene Dietrich sang bald schon von den Theaterbühnen Berlins und von den Leinwänden der zahlreichen Lichtspielhäuser und buntes Treiben in den Straßen und Bars aller Großstädte war Ausdruck einer großen Erleichterung. Trotz großer Armut in den unteren Gesellschaftsschichten, vielfältigen Nachwirkungen des Krieges und eines inflationären Wertverfalls der damaligen Reichsmark, schwang sich ein ganz besonders libertäres Lebensgefühl auf, das bis heute als legendär angesehen wird. Die 1920er Jahre erscheinen uns im Rückblick wie ein nicht enden wollender Rausch, eine Jahre andauernde exzessive Party. Nachdem die letzten Not-Lazarette der Pandemie-Bekämpfung wieder abgebaut und die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes aufgehoben waren, da platze die Lust regelrecht heraus aus den Menschen, die sich so lange in Zurückhaltung haben üben müssen. Neue Varietes und Tanzlokale schossen wie aus dem Boden, ein ungezügelter Hedonismus machte sich breit, der Seinesgleichen suchte. Ausdruck davon waren zahlreiche neue Musik Hits, befeuert durch die aufstrebende Schallplattenindustrie. Es war die Ära des Swing und Jazz und der prächtigen Konzerthäuser, in denen der Champagner in Strömen floss und ausschweifend getanzt wurde. Weiter angeheizt wurde die Stimmung vom damaligen Trend-Drink Absinth, dem eine ganz besondere Wirkung nachgesagt wird und wohl auch von allerlei Mittelchen und Pülverchen welche heutzutage als hochgradig illegal gelten, die in den Goldenen 20ern jedoch noch frei verfügbar in den Apotheken erhältlich waren. Das klingt ja fast so wie nach Städten wie Berlin oder Amsterdam im Jahre 2019, als gut besuchte Musik Festivals und lange Nächte in den Clubs und Bars noch zum Alltag gehörten. Wird all dies bald schon wieder zurückkehren? Oder steht uns davon losgelöst eine völlig neue Entwicklung bevor?

Experten uneins: wird der Boom kommen?

Wissenschaftler die sich mit gesellschaftlichen Entwicklungen befassen, malen sich in aktuellen Interviews manchmal eine baldige rosige Zukunft aus. Darunter etwa der in Harvard lehrende US-griechische Soziologe Nicholas Christakis. Nach seiner Analyse ziehen sich die Menschen während einer Pandemie zurück, horten ihr Geld und betrauern ihre verlorenen Menschen und Chancen. Haben sich die tödlichen Viren irgendwann verzogen, kommt es zum geradezu gegenteiligen Effekt: Christakis erwartet einen kulturellen, technologischen und wirtschaftlichen Frühling in der Post-Corona-Zeit, in dem “Nachtclubs, Erotik, Sexualität, all das” sehr wichtig werden wird. Gleichzeitig setzt er darauf, dass sich durch Home-Office und der Abschaffung von symbolischen Handlungen wie Handschlag und Begrüßungsküsschen eine nachhaltige Gesellschaftsveränderung ergeben könnte. Ein Kollege von Christakis, der US-Historiker Frank Martin Snowden, Professor Emeritus der Yale University, sieht die Dinge in einem leicht anderen Licht. Nach ihm hatte die Spanische Grippe kaum Auswirkungen auf die 1920er und er sieht eher historische Umwälzungen wie etwa die Russische Revolution als treibende Kraft hinter der damaligen Stimmung. Snowden vertritt die These, dass die Globalisierung, genauer gesagt der internationale Personenverkehr, der Hauptgrund für die aktuelle Corona-Pandemia ist. Dem Argument folgend, würde lediglich eine massive Einschränkung der Bewegungsfreiheit zu neuer Sicherheit führen. Nach besonders viel Aufbruch und Party klingt das erstmal nicht, auch wenn solche Maßnahmen durch die Einsparung von CO2-Ausstößen massiv zu einer Abmilderung des Klimawandels beitragen könnten.

So erscheinen uns die 1920er Jahre heute: neckisch, heiter, ein endloser Hedonismus

Die 1920er erscheinen der Wissenschaft ambivalent

Die Fachwelt ist sich also grundsätzlich uneins darüber, was genau uns noch bevorstehen wird. Dabei ist selbst diese Ambivalenz keineswegs eine neue Entwicklung, sondern haftet durch die Brille der Wissenschaft betrachtet auch den 1920ern an. Schließlich war die Zeit nicht unbedingt so ‘golden’, wie sie aus heutiger Sicht erscheint. Nicht ohne Grund wählte die englischsprachige und französischsprachige Welt für die selbe Dekade die Attribute ‘wild’und ‘verrückt’. Denn in Deutschland herrschte damals eine große Arbeitslosigkeit, die heutige Corona bedingte Zustände deutlich übertraf. Aus ökonomischer Perspektive gab es wenig Grund für Optimismus. Vereinfacht gesagt verpufften kurze Kunjunkturaufschwünge schnell wie Strohfeuer, eine Hyperinflation entwertete zusätzlich das wenige Geld, welches die Menschen besaßen und die wahrscheinlich von den USA ausgehende Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929 führte vollends in die sogenannte Große Depression. Derartige Entwicklungen werden uns hoffentlich erspart bleiben und tatsächlich scheint es so, als habe die Wirtschaftswissenschaft in den vergangenen 90 Jahren einiges dazu gelernt. 

Aber die Ökonomie ist selbstverständlich nur eine Seite der Medaille und eigentlich hat das kollektive Gedächtnis eher die kulturelle Perspektive im Sinn, wenn der Begriff Goldene Zwanziger erwähnt wird. Dann geht es um die bereits oben erwähnten Ausschweifungen, um den neuen Stil in der Mode der 1920er mit seinen klaren geraden Schnitten, den Cocktail Kleidern mit Spaghettiträgern und, nicht zu vergessen, den Federboas. Josephine Baker und Coco Chanel hoben das Burschikose der Weiblichkeit hervor und der kurze Bob wurde zur weitverbreitetsten Lieblingsfrisur. Ja, es war ein Jahrzehnt der starken Frauen, in Berlin wurde mit ‘Die Freundin’ von 1924 bis 1933 sogar die erste lesbische Zeitschrift der Welt herausgegeben. Aber was ist nun mit unseren 2020ern, wie ‘golden’ oder wie ‘roaring’, falls überhaupt, werden sie uns vom langen Lockdown erlösen? 

Hoffnung und Zuversicht – erlaubt und angebracht

Namhafte Experten wie der Psychologe und Resilienz-Forscher Simon Hahnzog zeigen sich sehr zuversichtlich, dass wir schon bald im genauen Gegenteil eines Lockdowns leben werden. Denn der Mensch sei ein ‘soziales Wesen’ und je länger ein Wunsch unterdrückt wird, desto stärker wird er später wie durch einen ‘Bumerang Effekt’ ausgelebt. Hahnzog erwartet die Entstehung von neuen Trends und neuer Kunst, die sich im Verborgenen bereits während der Pandemie entwickeln. Ähnlich wie in den 1920er Jahren wird eine neue, gesteigerte Relevanz von Clubs und Theatern zu beobachten sein und die Menschen werden sich erstmal ausgiebig ausleben und abreagieren. Eine Episode von ausgiebiger Feucht-Fröhlichkeit könnte uns bevorstehen. Als Versuch, die Entbehrungen der Pandemie zu vergessen sowie als ein Sprung in die Zukunft, in der endlich die während der Lockdowns entworfenen Ideen umgesetzt werden können. Dazu passen die jüngsten Aussagen von Marc Wohlrabe, erfahrener Verbandsvertreter der Berliner Clubszene, welcher unsere derzeitige Gesellschaft als eine Flasche unter Druck beschreibt. Nach ihm wird es nicht mehr lange dauern bis “Champagner ungeordnet und wüst heraussprudelt”. Das klingt doch schon ganz nach Vorfreude, Hoffnung und Zuversicht, wahrscheinlich die beste Einstellung die wir jetzt haben können. Wir sollten uns darauf freuen und sie aktiv konstruktiv mitgestalten – die Goldenen Twenty-Twenties.

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